Die Rolle der Tiroler Schützen während der NS-Diktatur
Nach Beauftragung durch den Bund der Tiroler Schützenkompanien: historische Aufarbeitung abgeschlossen. Forschungsarbeit in Buchform erhältlich
Im Jahr 2013 erteilte der Bund der Tiroler Schützenkompanien dem Historiker Dr. Michael Forcher den Auftrag, das dunkelste Kapitel in Tirols Geschichte ein weiteres Mal zu durchleuchten – die NS-Zeit. Dabei richtete sich der Fokus nun auf die Rolle der Tiroler Schützen während der NS-Diktatur, also der Jahre von 1938 bis 1945. Über die Rolle der Schützen wussten bisher nur wenige Zeithistoriker Bescheid. Deshalb gingen die Meinungen weit auseinander und reichten von der Behauptung, die Tiroler Schützen seien verboten gewesen, bis zu ihrer Einschätzung als Säulen des Systems. Die nun in Buchform vorliegende Forschungsarbeit von Dr. Michael Forcher bringt die nötige Aufklärung über Fakten und Hintergründe.
Dabei wird auch klar, wie die Schützen in zweifacher Weise instrumentalisiert wurden. Sie waren einerseits ein probates Mittel der Propaganda für das Regime, das als volksnah und Behüter der Tiroler Tradition herausgestellt werden sollte. Andererseits wurde die Schützenorganisation als willkommenes Forum für die ideologische Beeinflussung weiter Bevölkerungskreise missbraucht.
„Immer wiederkehrende Mythen, Erzählungen und unvollständige Berichte über die angebliche Rolle der Schützen in der Zeit des Nationalsozialismus überdeckten die tatsächliche Bedeutung, vom NS-Regime für Propaganda-Zwecke missbraucht worden zu sein. In Wirklichkeit beteiligten sich auch Mitglieder von Schützenkompanien – teils aus eigener politischer Überzeug, teils getrieben durch den Zeitgeist, oft aber auch aus Mutlosigkeit und Unterwürfigkeit für das NS-Regime.“
so der damalige Landeskommandant und jetzige Ehren-Landeskommandant Major Mag. Fritz Tiefenthaler
Wertvolle Innenwirkung – Aufarbeitung im Nachdenkprozess der Tiroler Schützen
Die Aufarbeitung des Themas „Die Tiroler Schützen in der NS-Zeit“ nahm im großangelegten Reflexionsprozess „Nachdenken über uns“ in den Jahren 2016 und 2017 einen wesentlichen Platz ein: In der Diskussion innerhalb der Kompanien, in Arbeitsgruppensitzungen und in der gewissenhaften Auseinandersetzung und Aufarbeitung konnte daraus ein eigenes Leitmotiv deduziert werden. Die insgesamt elf Leitmotive geben Orientierung im Denken und Handeln für die zukünftige Ausrichtung des Tiroler Schützenwesens. Umso wertvoller erachtete die damalige Bundesleitung die partizipative Entwicklung dieses neu gefassten Grundsatzes:
Leitmotiv „Konsequente Arbeit in Gesellschaft und Gemeinschaft“
Wir bekennen uns zur wechselvollen Geschichte unseres Landes. Verantwortungsbewusst setzen wir uns auch mit
den Schattenseiten unserer Geschichte auseinander. Dies gilt insbesondere für die Zeit des Nationalsozialismus.
Diese Jahre waren auch bei uns Schützen vielfach geprägt von Willfährigkeit gegenüber den Machthabern, der
Duldung intoleranter Geisteshaltung, von Missbrauch der Tradition sowie von Ausgrenzung und Verfolgung. Aus
dem Verantwortungsbewusstsein für unser Land und die Bevölkerung entwickeln wir zukunftsfähige Strategien
für unsere Arbeit in Gesellschaft und Gemeinschaft. Wir bringen uns aktiv in das Leben der Stadt- und
Dorfgemeinschaften ein und fördern soziale und gemeinnützige Projekte. Wir engagieren uns – basierend auf
unseren Grundsätzen und Werten – in wesentlichen Bereichen der Gesellschaft und realisieren außerdem
initiative Projekte im Kultur-, Sozial- und Umweltbereich.
„Wir sehen die Beschäftigung mit der Geschichte als wichtige Basis für die Zukunft. Wir tragen Verantwortung, aus der Geschichte zu lernen. Wir können nicht die Verantwortung für das damals Geschehene übernehmen. Aber wir Schützen werden, als positive Kraft dieses Landes, die Gemeinschaft, das Miteinander und das Demokratieverständnis pflegen und fördern. Wir werden uns verstärkt wider das Vergessen engagieren. Wir setzen uns gegen Intoleranz und Ausgrenzung ein!“
Bundesleitung des Bundes der Tiroler Schützenkompanien
Aus der Forschungsarbeit – die acht wichtigsten Fakten in der Zusammenfassung:
- Es gab die Tiroler Schützen während der NS-Zeit immer und überall, sie waren nie verboten, sondern wurden gefördert wie kaum zu einer Zeit vorher und nachher.
- Dass einigen Kompanien kurz nach der Machtübernahme der Nazis die Gewehre weggenommen wurden, war „eine Dummheit“ (wie es in den Akten heißt) einzelner NS-Gruppen, vielleicht ein Racheakt örtlicher Nazis, beruhte zum Teil aber auch auf falscher Einschätzung von Behörden. Gauleiter Franz Hofer protestierte dagegen und gab den Schützen ihre Waffen zurück, die sie bis 1945 bei jedem Ausrücken tragen durften. Auch Salven wurden geschossen, wenn auch nur zu besonderen Anlässen, vor allem beim Begräbnis von Gefallenen und „Heldenehrungen“.
- Die Schützenkompanien und -vereine wurden nicht einfach aufgelöst – verboten schon gar nicht –, sondern in den von Gauleiter Hofer gegründeten Tiroler Standschützenverband übernommen, der auch Musikkapellen, Volkstanzgruppen und Brauchtumsvereine umfasste. Teilweise geschah dies direkt, was freilich für einen Verein den Verlust der eigenen Rechtspersönlichkeit bedeutete. Teilweise – und das war bei der Mehrzahl der Kompanien der Fall – wurden sie in den NS-Reichskriegerbund eingegliedert und traten später „korporativ“ in den Standschützenverband ein. Das Procedere war kompliziert und mit monatelangem Streit unter den verschiedenen NS-Verbänden und Parteigliederungen verbunden, doch konnte Gauleiter Hofer letztendlich das gesamte Tiroler Schützenwesen unter seinen direkten Einfluss bringen.
- Die Schützen waren in der NS-Zeit fest im Griff der Partei. Der Tiroler Standschützenverband (später Standschützenverband Tirol-Vorarlberg) war Gauleiter Franz Hofer als Landesoberstschützenmeister unterstellt und auch im Kreis (Bezirk) und auf Ortsebene fungierten der Kreisleiter bzw. der Ortsgruppenleiter der NSDAP als Kommandanten (Schützenleiter, Kompanieführer oder Schützenmeister). Die bisherigen Hauptleute der Kompanien durften bleiben (wenn „nationalsozialistisch gesinnt“ oder der neuen Situation ausreichend angepasst) oder wurden gegen Parteigenossen oder treu ergebene Mitläufer ausgetauscht. Manche bekamen auch nur einen kommissarischen Leiter“ oder sonstigen Aufpasser an die Seite gestellt. Als NS-Organisation war den Schützenkompanien das Mitmarschieren bei Prozessionen verboten. Das Schießen am Schießstand war als vormilitärische Ausbildung das Wichtigste, vorgeschoben wurde allerdings die Tradition der alten Tiroler Wehrhaftigkeit.
- Auf diese Weise straff gelenkt, waren die Schützen in der NS-Zeit ein wichtiges Instrument der Parteipropaganda. Und das in zweifacher Hinsicht. Einerseits vermittelten die Beteiligung der Schützen bei allen nur denkbaren politischen Feiern, der Bau von Schießständen landauf landab und die vielen Schießwettbewerbe der Bevölkerung das Bild einer tiefen Verbundenheit der nationalsozialistischen Partei mit Heimat, Geschichte und Brauchtum. Auch die Förderung der Tracht durch entsprechende Einkleidung von Kompanien, die noch keine hatten, gehört dazu. Andererseits ermöglichte es der Standschützenverband mit seinen Untergliederungen auf Kreis- und Ortsebene, eine große Zahl von Menschen oft und direkt anzusprechen und damit die Parteiideologie in Kreise hineinzutragen, die man sonst nicht so leicht erreicht hätte. „Menschenführung“ war eines der wichtigsten Ziele, die Gauleiter Hofer beim Aufbau seiner Schützenorganisation verfolgte.
- Die Möglichkeiten, sich gegen diese Vereinnahmung zu wehren, waren wegen des ausgeübten Drucks, latenter oder offener Drohungen und der allgemeinen Angst äußerst gering und auf alle Fälle für den Einzelnen mit einem hohen Risiko verbunden. Es sind deshalb nur ganz wenige Beispiele dafür bekannt, dass in Schützenkreisen versucht wurde, die wenigen und engen Freiräume auszuloten. Es ist zu vermuten, dass es mehr solche Fälle gegeben hat, die jedoch nirgends dokumentiert und auch mündlich nicht überliefert sind.
- Dass es in den Schützenkompanien Parteigenossen und Mitläufer der Nazis gegeben hat, steht fest. Wie viele es waren, weiß man nicht. Man kann annehmen, dass die Schützen insgesamt ein Spiegelbild der Gesellschaft waren, dass es also in ihren Reihen alle Arten und Formen der Anhänger, der Angepassten und der dem NS-Regime gegenüber Distanzierten gegeben hat.
- Ein Thema, dass in diesem Buch – mit zwei Ausnahmen – nicht behandelt wird, sind die ehemaligen Nazis, die nach 1945 Schützen geblieben sind und bei der Neugründung oder Wiedergründung von Kompanien eine (oft führende) Rolle spielten. Man weiß sogar, dass 1950 unter den Gründern des Bundes der Tiroler Schützenkompanien ehemalige Nationalsozialisten waren. Es wird wohl auch dieses Kapitel der Tiroler Schützengeschichte einmal geschrieben werden.
Vorwort von Dr. Michael Forcher
Welche Rolle spielten die Tiroler Schützen in der NS-Zeit?
Als mir vom Bund der Tiroler Schützenkompanien die Aufgabe übertragen wurde, die Rolle der Schützen Nord- und Osttirols in der NS-Zeit zu erforschen, erwartete ich, einen bedeutenden Teil des Quellenmaterials bei den einzelnen Kompanien zu finden und damit ergänzen zu können, was in den Archiven von Innsbruck, Wien und vielleicht in Berlin an Akten zum Thema vorhanden ist. Auch auf die Auswertung der Zeitungen setzte ich große Hoffnungen. Nun, es kam anders. Denn „vor Ort“ gibt es – bis auf Mils und Telfs – praktisch nichts über die Nazizeit. Und zum Befragen von Zeitzeugen ist es zu spät. Die Durchforstung der Zeitungen erbrachte zwar jede Menge zitierbarer Artikel über Aufmärsche und Reden, fundierte Basisinformationen über Organisation, Aktivitäten und führende Persönlichkeit können sie aber nicht ersetzen.
Also kam es in erster Linie auf die großen Archive an. Über die insgesamt triste Quellenlage zur NS-Zeit informiert Nikolaus Hagen ausführlich in seiner als Forschungsauftrag des Landes Tirol entstandenen, im Dezember 2017 fertiggestellten und inzwischen approbierten Dissertation „Kultur- und Identitätspolitik im Gau Tirol-Vorarlberg 1938 –1945 “. Im Detail kommt dazu, dass die Protokollbücher und Repertorien oft interessante Schriftstücke erhoffen lassen, die Archivbediensteten aus den Aktensilos aber mit der Feststellung zurückkommen: „skartiert“, also ausgeschieden, entnommen und nicht zurückgestellt, vernichtet, jedenfalls nicht mehr vorhanden.
Das war im Tiroler Landesarchiv bei neun von zehn der bestellten Archivnummern der Fall. Trotzdem ist noch genügend vorhanden, um ein Thema wie die Schützen bearbeiten zu können. Sehr hilfreich waren zwei ältere Publikationen und eine brandneue wissenschaftliche Arbeit: Gretl Köflers Untersuchung aus dem Jahr 2004 über den Umgang der Nazis mit Vereinen und Verbänden (siehe Literaturverzeichnis im Anhang) und Horst Schreibers schon 1994 erschienenes Standardwerk „Die Machtübernahme. Die Nationalsozialisten in Tirol 1938 / 39 “, das eine kurze, aber sehr prägnante Darstellung der Absichten des Regimes in Hinblick auf die Schützen enthält. Sehr genau dokumentiert Schreiber, wie Gauleiter Franz Hofer durch die Gründung des „Tiroler Standschützenverbandes“ die Schützen in den Dienst der NS-Propaganda stellte und zur ideologischen Beeinflussung der Bevölkerung einsetzte. Die schon von ihm gesichteten sogenannten Bürckel-Akten im Wiener Staatsarchiv habe ich ebenfalls studiert und zum Teil ausführlicher zitiert, weil sie Einblicke in das Hickhack der verschiedenen Interessengruppen innerhalb der NSDAP und die bürokratische Arbeitsweise der verschiedenen NS-Dienststellen -gewähren.
Ganz wesentlich war für meine Arbeit das Erscheinen der bereits zitierten Dissertation von Nikolaus Hagen, einer 540 Seiten umfassenden, detailreichen und ausgezeichnet geschriebenen Arbeit über die NS-Zeit in Tirol, wie es sie bisher nicht gab. Ca. 30 Seiten und einige Absätze an anderen Stellen sind den Schützen gewidmet.
Zu bemerken ist, dass meine Arbeit von vornherein eingeschränkt war auf die Schützenkompanien und die Schützengilden bzw. Sportschützen nur einbezieht, wo sich die Geschichte der beiden Richtungen des Schützenwesens überschneidet oder ineinanderfließt, was in der NS-Zeit der Fall war. Die gegen Kriegsende als Volkssturm aufgebotenen, militärisch organisierten und notdürftig ausgebildeten Standschützenbataillone erwähne ich nur ganz kurz, weil sie mit dem traditionellen Schützenwesen nichts zu tun haben. Notwendig wäre aus meiner Sicht eine Untersuchung über die Schützenkompanien in den Jahren nach 1945 und die Gründung des Bundes der Tiroler Schützenkompanien (1950).
Es ist zu hoffen, dass in Zukunft niemand mehr falsche Vorstellungen über die Rolle der Schützen in der NS-Zeit hat, aus der Luft gegriffene Behauptungen verbreitet oder unhaltbare Verdächtigungen aufstellt. Vielleicht tauchen da und dort neue Dokumente auf, das wäre zu begrüßen und würde das Bild von der jüngeren Schützengeschichte klären, das jetzt doch noch fragmentarisch und unkonkret bleibt. Geschrieben habe ich meine Arbeit in erster Linie für die Tiroler Schützen. Es war keine Zeit, auf die sie stolz sein könnten, aber es gilt, die Fakten zu akzeptieren und als Teil der eigenen Geschichte zu begreifen. Und es sollte zu denken geben, wie leicht Tradition und Brauchtum missbraucht werden können.
Dr. Michael Forcher
Buchempfehlung
Michael Forcher
Die Tiroler Schützen in der NS-Zeit 1938–1945
Erscheinungstermin: 10. Dezember 2018
Herausgeber und Verleger:
Bund der Tiroler Schützenkompanien
und Verlag Effekt, Neumarkt
Gestaltung, Satz: Hana Hubálková
ISBN 978-88-97053-54-5
Euro 14,90
112 Seiten